LSG: Sozialpädiatrische Zentren (SPZ) nach § 119 SGB V für besondere Bedarfe zulässig

Sozialpädiatrische Zentren nach § 119 SGB V können grundsätzlich auch auf die Erbringung spezieller sozialpädiatrischer Leistungen aufgrund besonderer zu Grunde liegender Krankheitsbilder – hier Kinder und Jugendliche mit Organversagen – ausgerichtet sein. Die Bedarfsprüfung durch die Zulassungsgremien ist konkret hierauf auszurichten. (Leitsatz des Verfassers)

LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 06.11.2019 – L 3 KA 19/18, BeckRS 2019, 38279

 

Der Fall

Die Klägerin ist ein Universitätskrankenhaus, an dessen „Zentrum Kinderheilkunde und Jugend-medizin“ eine Klinik für Pädiatrische Nieren-, Leber- und Stoffwechselerkrankungen eingerichtet ist. Sie beantragte eine Ermächtigung für ein an diese Klinik angebundenes SPZ für Kinder mit Organversagen („SPZ-OV“). Um eine adäquate und frühzeitige Erkennung der besonderen psychosozialen und emotionalen Probleme von chronisch kranken Kindern und Jugendlichen mit Organversagen und eine Entwicklung darauf ausgerichteter Therapiestrategien zu gewährleisten, sei ein speziell auf diese Fragestellungen ausgerichtetes SPZ erforderlich. Diese Patientengruppe bedürfe einer besonderen Beobachtung und Behandlung, die integrativ mit den Organspezialisten der Kinderklinik der Klägerin erfolgen müsse. Dazu gehöre auch eine psychosoziale Betreuung durch mit den speziellen Anforderungen und Problemen der betroffenen Kinder erfahrene Ärzte und Therapeuten. 

Zum Antrag der Klägerin holte der Zulassungsausschuss Stellungnahmen zweier weiterer bestehender SPZ ein, die jeweils angaben, dass sie die im Antrag aufgeführten Leistungen erbringen könnten und hierfür freie Kapazitäten bestünden. Die (Landesverbände der) Krankenkassen und Ersatzkassen hielten die Ermächtigung eines SPZ am Standort der Klägerin in einer gemeinsamen Stellungnahme nicht für erforderlich, da eine ausreichende sozialpädiatrische Versorgung sichergestellt sei. Zudem sei die angegebene Zahl von etwa 200 Neupatienten jährlich für die Auslastung selbst eines Behandlerteams zu wenig.

Der Zulassungsausschuss lehnte die Erteilung einer Ermächtigung für ein SPZ-OV dann mit der Begründung ab, dass eine ausreichende sozialpädiatrische Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit akutem oder chronischem Organversagen sichergestellt sei. Das folge im Wesentlichen schon aus den plausiblen Angaben der beiden befragten ermächtigten SPZ.

Die Klägerin legte Widerspruch ein u. a. mit der Begründung, dass an den befragten beiden SPZen zwar fraglos eine fachliche Kompetenz in der Diagnostik und Therapie allgemeiner Entwicklungsstörungen bei Kindern bestehe. In der Diagnostik und Therapie von Teilhabestörungen bei Kindern und Jugendlichen nach Organversagen müsse das Behandlerteam aber zusätzlich über ein Verständnis für die komplexen somatischen Erkrankungen verfügen. Das sei bei der Klägerin aufgrund langjähriger Erfahrungen in der Transplantationsmedizin gewährleistet.

Zur Unterstützung ihres Widerspruchs legte die Klägerin Stellungnahmen des Obmanns der Kinder- und Jugendärzte in der Region sowie von verschiedenen Selbsthilfevereinen vor, die die Einrichtung des von der Klägerin geplanten SPZ-OV befürworten.

Der beklagte Berufungsausschuss wies den Widerspruch zurück. Das von der Klägerin geplante, speziell auf Kinder mit Organversagen ausgerichtete SPZ werde dem umfassenden Anspruch eines SPZ nicht gerecht, zumal die vorhandenen SPZ die gesetzlich geforderten Aufgaben eines SPZ auch für den von der Klägerin benannten Personenkreis übernehmen könnten. Daran ließen die ein-geholten Stellungnahmen keinen Zweifel.

Das SG wies die Klage mit folgender Begründung ab: Beide vom Zulassungsausschuss befragten SPZ behandelten Kinder mit Entwicklungsstörungen jeglicher Ätiologie. Die Kammer sehe keinen Anlass, diesen Vortrag der beiden Zentren im Hinblick auf Eignung und Kapazität in Zweifel zu ziehen.

Gegen das Urteil des Sozialgerichts hat die Klägerin Berufung eingelegt. Sie rügt eine fehlerhafte Beurteilung der Bedarfssituation hinsichtlich eines eigenständigen SPZ-OV. Die Befragung der beiden bestehenden SPZ sei dafür – zumal ja unterschiedliche entgegenstehende Stellungnahmen Dritter vorgelegt worden waren – nicht ausreichend gewesen.

 

Die Entscheidung

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet. Der beklagte Berufungsausschuss muss neu entscheiden.

Bei der Beurteilung des Bedarfs und der Sicherstellung der sozialpädiatrischen Versorgung kommt den fachkundig besetzten Zulassungsgremien ein gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Die gerichtliche Kontrolle beschränkt sich darauf, ob der Entscheidung des Berufungsausschusses ein richtig und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liegt, ob die durch Auslegung der in § 119 Abs. 1 SGB V verwendeten unbestimmten Rechtsbegriffe (Gewähr für eine „leistungsfähige und wirtschaftliche Behandlung“, Notwendigkeit der Ermächtigung für eine „ausreichende sozialpädiatrische Behandlung“) zu ermittelnden Grenzen eingehalten und die Subsumtionserwägungen so hinreichend in der Begründung der Entscheidung verdeutlicht wurden, dass die zutreffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe erkennbar und nachvollziehbar ist.

Diesen Anforderungen wird der angefochtene Beschluss des Beklagten nicht gerecht.

Entgegen der Annahme des Beklagten steht einer Erteilung der Ermächtigung nicht schon der Umstand entgegen, dass die Klägerin in dem von ihr geplanten SPZ spezialisierte sozialpädiatrische Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Organversagen erbringen möchte.

Nach § 119 Abs. 2 Satz 1 SGB V ist die Behandlung durch SPZen auf diejenigen Kinder auszurichten, die wegen der Art, Schwere oder Dauer ihrer Krankheit oder einer drohenden Krankheit nicht von geeigneten Ärzten oder in geeigneten Frühförderstellen behandelt werden können. Die Ermächtigung ist gemäß § 119 Abs. 1 Satz 2 SGB V zu erteilen, „soweit und solange“ sie notwendig ist, um eine ausreichende sozialpädiatrische Behandlung sicherzustellen.

Schon der Wortlaut dieser gesetzlichen Vorgaben legt es nahe, dass die Zulassungsgremien den Umfang des sozialpädiatrischen Behandlungsbedarfs im Einzelfall nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht festzustellen haben. Danach ist auch ein Bedarf in einem spezialisierten Teilbereich der Sozialpädiatrie denkbar, der (vergleichbar mit einem qualitativ-speziellen Bedarf bei den Ermächtigungen nach § 116 SGB V) als Grundlage der Ermächtigung eines SPZ in Betracht kommt.

In Übereinstimmung mit dieser Annahme haben die Zulassungsgremien einzelfallbezogen Gegenstand und Umfang der Ermächtigung zu konkretisieren und entsprechend dem ermittelten Bedarf im Ermächtigungsbescheid festzulegen. Nach überwiegender Auffassung ist insoweit eine Bezeichnung der betroffenen Krankheitsbilder im Ermächtigungsbescheid erforderlich. Dieser möglichen und nach den gesetzlichen Vorgaben („soweit und solange sie notwendig ist“) regelmäßig sogar gebotenen Beschränkung des ambulanten Behandlungsauftrags steht der vom Beklagten angeführte „umfassende Anspruch eines SPZ“ nicht entgegen. Die dazu in seinem Beschluss herangezogenen Maßgaben des – rechtlich ohnehin nicht verbindlichen – „Altöttinger Papiers“ beziehen sich vielmehr auf die ganzheitliche Sichtweise unter Einbeziehung und Würdigung des Kindes bzw. Jugendlichen, seiner Familie und des sozialen Umfelds sowie auf die spezielle Konzeption eines SPZ, für die eine interdisziplinäre Zusammenarbeit in einem multiprofessionellen Team charakteristisch ist.

Zu prüfen ist der Bedarf für die von der Klägerin geplanten hochspezialisierten Leistungen im Einzugsbereich des zu errichtenden SPZ besteht. Lässt sich das bejahen – wofür die plausiblen Darlegungen der Klägerin sprechen -, muss ein solcher Bedarf in einem weiteren Schritt quantifiziert werden.

Zur Feststellung des Bedarfs in quantitativer Hinsicht sind insbesondere die vom Zulassungsausschuss eingeholten Stellungnahmen der SPZen und der (Verbände der) Krankenkassen  und Ersatzkasse unzureichend, weil diese weder in Bezug auf die Anzahl der Patienten mit Organversagen noch hinsichtlich des sozial-pädiatrischen Behandlungsbedarfs im Allgemeinen substantiierte Angabe enthalten. Gleichzeitig bestehen nach den bisherigen Ermittlungsergebnissen keine Anhaltspunkte dafür, dass von vornherein kein nennenswerter Bedarf für die Leistungen eines SPZ-OV bestehen könnte.

Ausgehend von dieser unzureichenden Sachaufklärung hat der Beklagte – wie bereits zuvor der Zulassungsausschuss – überhaupt keine Feststellung dazu getroffen, von welchem Bedarf an sozialpädiatrischen Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Organversagen im Einzugsbereich des von der Klägerin geplanten SPZ er ausgeht. Das mag zwar im Hinblick auf seine Rechtsauffassung, wonach eine Beschränkung der Ermächtigung auf solche Behandlungsfälle von vornherein nicht in Betracht kommt, als folgerichtig erscheinen. Da diese Auffassung aus den oben dargelegten Gründen aber unzutreffend ist, stellt sich seine Entscheidung bereits in dieser Hinsicht als beurteilungsfehlerhaft dar.

 

Praxishinweise

1. Der Senat stellt klar, dass sich aus § 119 SGB V und den zu Rate gezogenen ergänzenden Unterlagen und Informationen keinerlei unterstützende Hinweise für die vorliegend von den Zulassungsgremien vertretene Auffassung entnehmen lassen, dass SPZen für besondere indikationsspezifische Bedarfe unzulässig wären. 

2. SPZ mit besonderer indikationsspezifischer Ausrichtung sind grundsätzlich zulässig. Die Zulassungsgremien haben den Bedarf anhand der vorliegenden und ggf. im Rahmen ihrer Zuständigkeit einzuholenden weiteren Informationen zu ermitteln und ihrer Entscheidung zu Grunde zu legen.

3. Die Entscheidung ist insbesondere aus Versorgungsgesichtspunkten zu begrüßen. In einer sich fortentwickelnden Jugendmedizin mit neuen Behandlungsmöglichkeiten und -schwerpunkten müssen die Zulassungsgremien etwaige neu entstehende Bedarfe angemessen in Ihre Beurteilungs- und Ermessensentscheidungen einbeziehen.